Danuta Karsten oder von der Erfahrbarkeit der Wirksamkeit (energeia)

 

Dieter Ronte

Danuta Karstens Kunst agiert immer wieder neu mit erstaunlichen Erfahrungen, in deren Mittelpunkt der ästhetischen Auseinandersetzung ein Raum steht. Dieser aber wird nicht artifiziell abgebildet und im Tafelbild neu gesehen, um perspektivisch, also als bildliche Lüge, dargestellt zu werden. Der Raum selbst ist der neue Bildträger, den die Künstlerin in seiner Gänze nutzt. Raum bedeutet für sie zugleich Raum der Kunst, Raum der Freiheit der Kunst, Ort der Selbstfindung und Verwirklichung. Sie braucht den Raum nicht, um seine  Wände mit bildlichen Ideen zu bespielen. Sie nutzt ihn als Hülle, als objektiven, dreidimensionalen, leeren Raum, den sie neu verortet. Sie erarbeitet durch künstlerische Setzungen eine unbekannte Begehbarkeit, eine andere Erfahrung, die nichts mehr mit einem durch Bilder oder Skulpturen möblierten Raum zu tun hat. Die architektonische, zeichnerische Vermessung wird radikal von der Neuentdeckung des Raumes überlagert. Dieses Mapping The Room führt durch innere und faktische Zeichnungen zu einer völlig neuen Verortung des Raumes.

Karsten definiert den Raum neu. Sie liebt alte Räume, die sie umfunktionieren kann, die eine Geschichte in sich tragen und diese als einem narrativen Element weiter erzählen ohne dass die Künstlerin auf eine realistischere Weise darauf eingehen muss. Der Raum bleibt in seiner Dominanz sich selbst überlassen und doch wird er radikal  verändert. Der Raum ist meistens ein Innenraum. Er kann aber auch durch einen bisher nicht artikulierten Raum im Freien definiert werden, der aus sich selbst heraus seine Umgebung aktiviert. Gebilde zwischen freiem Konstrukt und mächtiger Illusion entstehen.

 Der Betrachter muss sie durchwandern. Er kann nicht mit einem Blick alles erfassen. Er wird in den Prozess des Kunstwerkes wie in einen Ablauf zeitlich integriert. Denn er muss in den Dialog seine eigene Zeit einbringen und in ihr über das Gesehene und Erfahrene nachdenken. Er sieht die einfachsten Materialien, die durch die Hände der Künstlerin eine unglaublich suggestive Ausstrahlung erfahren. Die Formen sind geometrischer Natur aber nie als solche mathematisch oder sogar maschinell definiert. Ein Eigenleben jeder einzelnen Form agiert im Raum. Die Formen häufen sich bis in unzählbare Einzelteilchen, die alle ähnlich sind und doch jeweils auch etwas anders. Ein Überfluss der Formen zeichnet sich ab. Dennoch ist diese Redundanz nicht nur formaler Natur sondern zugleich auch eine Notwenigkeit, weil die Wiederholungen das Prinzip des künstlerischen Prozesses  verdeutlichen.

Das Prinzip der Wiederholung als plastische Gestalt wird dadurch verstärkt, das die einzelnen Elemente an Schnüren befestigt wie Strahlen die Räume diagonal, vertikal oder horizontal durchkreuzen. Immer nutzten sie das Licht des jeweiligen Raumes. Sie verstärken es, sie verändern es. Das Licht definiert jetzt nicht mehr die Raumgrenzen sondern die Elemente seiner Bestzungen. Diese Besetzungen müssen nicht nur im Durchqueren des Raumes bestehen, sie können auch durch die Verhängung der Fenster mit einer diaphanen Struktur Veränderungen der Lichtverhältnisse herbeiführen. Diese Überlegungen zu einer neuen Lichtführung durch bildende Kunst durchzieht das Oeuvre der Künstlerin von Anfang an. Licht heißt aber nicht künstliches Licht, bedeutet keine Lichtstrahler sondern heißt immer die Energien des natürlichen Lichts des Ortes. Dadurch kann sich bei veränderndem Licht im Ablauf eines Tages auch eine sich ändernde Seherfahrung einer Raumarbeit ergeben. Die Verwendung der einfachen Materialien wird zu spatialen Geometrie des Lichts als Formen des Erkennens. Diese neue Raumnutzung schließt eine starke farbige Einbringung in den Raum aus. Das Licht formuliert die Lichtwerte, nicht aber die farbigen Reflektionen eines zu bestrahlenden Gegenstandes.

Das Prinzip der Anhäufung ähnlicher Bildelemente kennen wir auch dem Nouveau Réalisme der sechziger Jahre, z.B. in den Akkumulationen von Arman und anderen. Hier wird das Objekt als objektiver Kunstträger genutzt. Das Objekt ist zudem ein gefundenes, keine für den Zweck erstelltes. Die Akkumulation ist die Weiterführung des Ready Mades von Marcel Duchamp als Antwort auf die dominierenden Abstraktionen dieser Zeit. In dieser Zeit wächst die Künstlerin in Polen in ihre Tätigkeit als Künstlerin hinein. Sie kennt die politischen Schwierigkeiten von künstlerischen Freiräumen. Sie weiß um den Streit von abstrakt oder realistisch, von sozialistischem Realismus oder selbstreferentieller Kunst. Sie kennt die gemeinsame Geschichte der Künste zwischen Polen und Deutschland, mit dem Bindeglied Konstruktivismus und Bauhaus. Hier setzten ihre Überlegungen ein. Ihre Kunst ist weiterhin konstruktiv und wie bei den polnischen Konstruktivisten ( z.B. der Unismus von Wladyslaw  Strzeminski und Katarzyna Kobro ) auf den Raum bezogen. Sie hebt aber die stilistisch strengen historischen Bindungen auf, indem sich die Kunstwerke jedem politischen Statement entziehen und dennoch eine neue Geschichte des Raumes schreiben, in der die Erinnerungen eine große Rolle spielen.

 Auch die benutzten Materialien tragen eine Erzählung in sich. Die Wiederholungen der einzelnen Formen sind deshalb keine Flucht in einen neuen Realismus, sondern die Geometrisierung und Poetisierung gleicher Formen zu einem neuen, raumgreifenden Inhalt. Statt an den Nouveau Réalisme zu erinnern führt Karsten einen andere Überlegungen der sechziger und siebziger weiter, die der arte povera. Doch den italienischen Forderungen nach einfachen Materialien und der ästhetischen Reduktion entspricht sie oft noch radikaler als die italienischen  Künstler. Doch der Einfachheit der italienischen Rationalität setzt sie einen  Reichtum formaler Lösungen entgegen. Sie bestimmt keine direkten Setzungen, sondern sie steigert die Inherenz  der möglichen, gefundenen  Optionen innerhalb der räumlichen Vorgaben.

 Durch die Geometrisierung kann Danuta Karsten Räumlichkeiten anders als durch ihren Nutzungszweck bewerten. Die Geometrisierung ist immer die von mehreren Mannigfaltigkeiten, die in dem Raum konnotieren aber nicht unmittelbar sichtbar sind. Ihre  Sichtbarkeit entwickeln sie durch die Geometrisierung. Diese zerlegt als Prinzip das Ganze in einzelne Komponenten, die im Zusammenspiel die Geometriesierung verdeutlichen. Diese Geometriesierung schwebt als Kunstwerk zwischen Mimesis und Abstraktion. Zugleich ist sie die künstlerische Erklärung der veränderten  Raumwahrnehmungen. Diese Wahrnehmungen erlauben neue Erkenntnisse, Integration des Betrachters oder auch seine Distanz, neue Assoziationen ebenso wir Bestätigung. Die Geometrisierung wird zum Modell einer unbekannten Weltfindung, zu einem metapherhaften Modell der Zukunft, ohne  dass der Eindruck einer Simulation entsteht. Vielmehr kommen die Gedanken des Aristoteles in seiner Poetik und Rhetorik in den Sinn. Die Metapher hat die Eignung, das Gesagte vor Augen zu führen. Als gewollte und erdachte Entscheidung kann sie das Beseelte für unbeseelte Dinge  in Wirksamkeit (energeia)  vergegenwärtigen.

Die Findung der Formen und ihre Erstellung ist ein gedanklicher Prozess, der nach der Analyse eines Raumes beginnt. Denn jeder Raum hat seine eigenen architektonischen Verhältnisse, seine einmalige Nutzbestimmung, auch wenn er sie verloren hat, weil neue, zuvor nicht geplante neue Nutzungen dominieren. Jeder Raum hat durch seine Nutzungen seine eigenen Inhalte an Erfahrungen, die er in sich trägt und ein direkt oder indirekt weiter vermittelt. Karsten reagiert auf diese Mitteilungen mit jeweils spezifischen Überlegungen. Aus diesen Gedanken heraus entscheidet sie sich für ein Material, das sie anschließend in oft  geduldigstem Zeitaufwand Stück für Stück in die richtigen Formen bringt. Dann beginnt die Installation, die zumeist nicht für die Ewigkeit bestimmt ist, sondern auf kurze oder längere Zeitphasen angelegt ist. Dann kann die Arbeit aber nicht als solche gelagert werden. Die Auflösung für zur Aufbewahrung in Tüten und Kartons. Das Kunstwerk kehrt in die Unsichtbarkeit des Untergrundes zurück, es  wird klandestin, und es entzieht sich dem Markt. Es verschwindet  und ist dennoch materiell vorhanden. Aber  wenn es ist nicht mehr zu sehen ist, so es verliert seine Zeugenschaft. Dennoch ist es existent, weil es diskutiert und erfahren wurde. Es bleibt Teil der Erinnerungen. Die Kunstwerke haben deshalb einen transitorischen Charakter, Feinheit des  Gebrechlichen, eine starke Verletzbarkeit, die sich dem Raum in aller Fragilität hingibt, um zuletzt den Raum wieder sich selbst zu überlassen. Er übernimmt wieder seine eigene Leere und Verlassenheit. Eine Angst, die ihm die Künstlerin auf Zeit genommen hatte.

Die Künstlerin arbeitet nicht nach theoretischen Vorgaben, sehr wohl aber nach einer individuellen Strategie, mit der sie ihr Kunstwollen verwirklicht.  Darin spielen z. B. Kalkül und Phantasie, Erfindung und Handwerk, Konstruktion und Dekonstruktion, Konzept und Realität, Freiheit und Nützlichkeit, Durchdringung und Freisetzung, Festigung und Vibration wichtige Rollen.  Sie gestaltet mit formaler Simplizität eine große gedankliche Komplexität. Aus den Gegensätzlichkeiten werden Einheiten geformt, die nur als künstlerische Gebilde erfahrbar sind, nicht aber als Nutzobjekte des Alltags. Die Räume werden ebenso auf Zeit in Zustand des Kunstwerkes transformiert, das durch die Besetzung des Raumes jede andere Nutzung ausschließt. Karsten existenzialisiert den Raum. Dieser wird neu ausgerichtet. Er wird durch eine emotionale Raumaufladung in seiner Präsenz gesteigert.  Die Werke sind die Resultate eines gerichtet agierenden Handelns, in denen der Zufall keinen Platz hat. Karsten sieht in ihrer Kunst auch einen Ordnungsfaktor, der sich in den Bereichen Ästhetik, Nutzungen, Gedanklichkeiten und stilistische  Ausprägungen zeigt. In einer immer chaotischer werdenden Medienwelt gewinnen die Arbeiten somit auch einen politischen Charakter. Sie strahlen Ruhe aus, sie wirken trotz ihrer Fragilität  von starker Nachhaltigkeit, sie zeigen Visionen einer anderen Wegeführung auf. Sie sind die Träume des Wirklichen zur Überwindung der Wirklichkeiten.

Jeder Raum, den die Künstlerin als Bildträger nutzt, gewinnt durch die Besetzung durch die Kunst einen neuen Pol, einen anderen Kompass. Dieser grenzt ein und ent-grenzt zugleich die früheren, vorgefundenen Begebenheiten des Raumes. Die Kunstteile queren und durchqueren den Raum. Dieser wird poetisiert, weil er ent-nützlicht wird. Er kann sich selbst verinnerlichen. Dieser Vorgang ist quasi mit einer Entmenschlichung verbunden, da die Künstlerin den oder die Menschen nicht direkt in das Kunstwerk einplant. Diese sind immer menschenleer. Die Besucher werden dennoch zu Mitautoren, die durch den neuen Raum zugleich aktiv neue Lebensbereiche erkennen und erfahren. Die Räume gewinnen jenseits von ihrer architektonischen Bestimmungen den Charakter eines Erlebnisraumes hinzu, der von den Besuchern durchlaufen und durchquert werden kann. Dadurch gewinnt das Werk eine Viel-Ansichtigkeit, die zugleich auch sehbare Veränderungen impliziert.

Danuta Karsten liebt einfache und durchdringbare Kunstwerke. Bei der Hinterfragung dieser künstlerischen Mitteilungen erfährt jeder Betrachter, dass die formalen Lösungen  nur ein kleiner Teil des Kunstwollens der Künstlerin sind. Die Werke entwickeln sich wie eine in die dritte Dimension geschriebene Poesie der Räume und der Gegenstände aus dem Alltag. Karsten agiert als homo ludens, sie treibt das Glasperlenspiel von Hermann Hesse zur visuellen Vollendung in perfekter Schönheit. Doch nicht die Geometrie oder Mathematik als intellektuelle Felder für den Kopf bestimmen das Handeln sondern die Suche nach einem neuen Weltbild, den anderen visuellen Möglichkeiten, die wir in unserer zum reinen Nutzen und zur ökonomischen Wertung drängenden Gesellschaft aus unserem Denken verbannt haben. Die formale Strenge folgt der Logik eines dialektischen Denkens. Deshalb ist ihre Kunst nie die reine Abstraktion sondern die pure Realität einer künstlerischen Wirklichkeit. Karstens Kunst zeigt Gegenbilder, neue optische Optionen für ein veränderndes Sehen auf.

 

Dezember 2012